Süßstoffe sind bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt, doch erst in den letzten Jahrzehnten werden sie besonders kontrovers diskutiert. Spätestens seit der Veröffentlichung einer Studie in den 1970ern, die zeigte, dass Süßstoffe bei Ratten Blasenkrebs verursachten, war dem Chaos Tür und Tor geöffnet.
Im Folgenden möchte ich einen Einblick in die aktuelle Forschungslandschaft geben und stütze mich dabei auf eine Übersichtsarbeit der WHO: Health effects of the use of non-sugar sweeteners: a systematic review and meta-analysis aus dem Jahr 20221.
Der Anfang allen Übels
Ein Beispiel für die Medienwirksamkeit bestimmter Untersuchungsergebnisse – und wie wichtig es ist, Daten richtig zu interpretieren – war die Studie von Price et al. aus den 1970ern2. Die Forschenden verabreichten Ratten hohe Mengen an Süßstoffen, unter anderem Saccharin und Cyclamat. Die untersuchten Ratten entwickelten nach Gabe der Süßstoffe Blasenkrebs, was zu einem Aufschrei der Bevölkerung führte und das schlechte Image der Süßstoffe begründet.
In den 1970ern gab es daher beinahe eine Studienschlacht, um die Ergebnisse entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. In den Medien verbreiteten sich selbstverständlich die Negativschlagzeilen wie ein Lauffeuer, während die (langweiligen) Richtigstellungen in der Masse untergingen. Die Zuckerlobby tat ihr Übriges, die wissenschaftliche Datenlage zu verwischen und die Bevölkerung zu verunsichern.
Mittlerweile gibt es viele Erklärungen und Stellungnahmen, die beschreiben, weshalb die Ergebnisse nicht einfach von Ratte auf Mensch übertragbar sind und warum die erhobenen Daten kritischer betrachtet werden müssen. Das Scientific Committee for Food der Europäischen Kommission äußerte sich beispielsweise 19973 zu dem Thema und nannte mögliche Erklärungsansätze:
„Ein erhöhter Gehalt an Natriumionen im Urin und ein hoher pH-Wert […] sind für die Entstehung von Blasentumoren bei der männlichen Ratte durch […] Saccharin wesentlich. […] Die Erklärung für den Unterschied zwischen der Reaktion der männlichen Ratte und anderer Spezies, einschließlich des Menschen, beruht nicht auf einem Unterschied im Stoffwechsel, sondern wahrscheinlich auf einem Unterschied in der lokalen Wirkung und Reaktion in der Blasenwand. Die mechanistischen Studien […] deuten stark darauf hin, dass Saccharin nicht mit Blasenkrebs beim Menschen in Zusammenhang steht.“
Problematisch an der Untersuchung aus den 1970ern war außerdem, dass den Ratten eine Dosis (einer Mischung aus Cyclamat und Saccharin) von 2600 mg/kg Körpergewicht über mehr als zwei Jahre lang verabreicht wurde. Zum Vergleich – der aktuelle ADI (acceptable daily intake), also die Menge an Süßstoff, die über einen längeren Zeitraum täglich aufgenommen werden kann, ohne negative gesundheitliche Effekte auszulösen, liegt für Saccharin und Cyclamat bei 5 bzw. 7 mg/kg Körpergewicht4. Die damals verabreichte Dosis war also etwa 500x höher als das, was heute gesundheitlich als „akzeptabel“ gilt.
Trotz des fragwürdigen Studiendesigns und der heutigen Erkenntnisse, ist die Frage, ob Süßstoffe (Blasen-)Krebs verursachen, noch immer nicht abschließend geklärt. In der Übersichtsarbeit der WHO – immerhin über fünfzig Jahre später – ergab die Auswertung vorliegender Literatur ein um 31 % gesteigertes Risiko für Blasenkrebserkrankungen bei Aufnahme von Süßstoffen, insbesondere Saccharin. Liegen sie also auch falsch?
Eine Schlechte Datenlage
Trotz zahlreicher Studien, bleibt die Datenlage schlecht. Oftmals sind Untersuchungen von unzureichender Qualität, haben ein fragwürdiges Studiendesign, bei dem zu hohe Konzentrationen an Süßstoffen verabreicht werden oder die Untersuchungen laufen über einen zu kurzen Zeitraum. Wenn all diese Studien aus Meta-Analysen (wie es die WHO auch gemacht hat) herausgenommen werden, ist die Datenlage recht dünn.
Beispielsweise wird aus der untenstehenden Tabelle (entnommen aus der Übersichtsarbeit der WHO) ersichtlich, wie wenige Studien den Anforderungen der Meta-Analyse entsprachen und auf wie wenigen Daten die Ergebnisse letztendlich beruhen – für die meisten Krebsvarianten ist die Datenlage auf eine bis vier Kohorten beschränkt.
Einzig bei Untersuchungen zum Blasenkrebs konnten 26 Kohorten (eine Gruppe, die zur gleichen Zeit das gleiche Ereignis erfahren hat) in die Analyse eingeschlossen werden – die Ergebnisse sind daher solide und belastbar.
Tabelle 1 | Zusammenfassung Ergebnisse für Süßstoff-Aufnahme und Krebs (Ausschnitt)
Einige Ergebnisse zusammengefasst
Kommen wir zu ein paar Ergebnissen der Übersichtsarbeit der WHO. In dieser Arbeit konzentrierten sich die Wissenschaftler auf Randomized Controlled Trials (RCT; Goldstandard; Studie mit einer Intervention, die Rückschluss auf kausale Zusammenhänge lässt), prospektive Kohortenstudien (begleitende Beobachtungen, sodass sich nicht auf das Erinnerungsvermögen der Probanden verlassen werden muss) sowie Fall-Kontroll-Studien (zu jedem Fall wird eine passende Vergleichsperson als Kontrolle ausgewählt).
Insgesamt konnten 283 Studien in die Analyse eingeschlossen werden. Es ist daher eine qualitativ hochwertige und umfangreiche Analyse der aktuellen Datenlage (2022), um zu beantworten, welche Effekte der Konsum von Süßstoffen auf die menschliche Gesundheit hat. In der nachstehenden Abbildung aus der Übersichtsarbeit sind die Ergebnisse einmal zusammengefasst.
Tabelle 2 | Ergebnisse der Meta-Analyse der WHO. Unterscheidung nach Studiendesign – Randomized Controlled Trials belegen kausale Zusammenhänge, während Kohorten-/Fall-Kontroll-Studien „nur“ beobachten.
Es wird hier klar nach Studiendesign unterschieden, da die Interpretation der Ergebnisse davon abhängig ist. Während die Randomized Controlled Trials einen kausalen Zusammenhang darstellen, können die Kohorten- und Fall-Kontroll-Studien „nur“ beobachten. Belastbare Daten zu tatsächlichen kausalen Zusammenhängen – das heißt, dass zwischen Süßstoff-Verzehr und einer Erkrankung eine eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehung existiert – sind kaum vorhanden.
Bestätigte Zusammenhänge finden sich zwischen dem Konsum von Süßstoffen und
- einer Verringerung des Körpergewichtes und damit einhergehend des BMIs
- einer Erhöhung des kardiovaskulären Risikos durch erhöhtes HDL Cholesterol
- einer generell verringerten Energie- und Zuckeraufnahme.
Keinerlei belastbare kausale Zusammenhänge konnten zwischen Süßstoffkonsum und Krebs gefunden werden.
Auf der anderen Seite konnten einige negative Effekte des Süßstoff-Konsums mithilfe der Kohorten- und Fall-Kontroll-Studien beobachtet werden – wie gesagt ohne einen kausalen Zusammenhang zu belegen – unter anderem
- ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und kardiovaskuläre Erkrankungen
- ein erhöhtes Risiko für Typ-2 Diabetes
- ein erhöhtes Risiko für Blasenkrebs
- eine generell erhöhte Mortalitätsrate.
Was war zuerst da – das Huhn oder das Ei?
Einen wichtigen Punkt, der zur Einordnung der Ergebnisse genannt werden sollte, erklärt die WHO selbst: das Problem der reverse causation (umgekehrte Kausalität). Dieses Phänomen könnte Erklärungen für gefundene Zusammenhänge liefern.
Umgekehrte Kausalität ist ein typisches Huhn-Ei-Problem. Es bedeutet im Kontext der Süßstoffe, dass Probanden, die sich bereits in einem „krankhaften“ (pre-disease) Stadium befinden oder bereits ein hohes Risiko für bestimmte Erkrankungen haben, aufgrund dessen viele Süßstoffe in ihren Speiseplan integriert haben und daher im Verlauf der Experimente Krankheiten bekommen. Ursache wären dafür dann aber nicht die Süßstoffe, sondern die zugrundeliegende Erkrankung, die schon vorher existierte.
Die WHO sagt dazu:
„Tatsächlich hatten in einigen Studien die Personen mit der höchsten Aufnahme von [Süßstoffen] ein höheres Körpergewicht […], eine schlechtere allgemeine Ernährungsqualität oder ein höheres Krankheitsrisiko zu Beginn der Studie als diejenigen mit einer geringeren Aufnahme. […] Die Assoziationen zwischen [Süßstoffen] und Krankheitsergebnissen blieben nur bei denjenigen mit einem höheren BMI signifikant, […] was darauf hindeutet, dass eine umgekehrte Kausalität zu der beobachteten Assoziation beitragen könnte. […] Die stärkere Assoziation des [Süßstoff]-Konsums bei Personen mit höherem BMI kann entweder als Hinweis auf eine umgekehrte Kausalität oder als Beitrag von [Süßstoffen] zur Gewichtszunahme […] interpretiert werden.“
Bekommt man von Süßstoffen also einen süßen Zahn?
Laut der WHO-Untersuchung haben Süßstoffe nur geringen Einfluss auf unser Essverhalten. Nachstehend sind einige Ergebnisse zusammengefasst.
energieaufnahme
Süßstoffe sorgen, wie schon oben beschrieben, für eine verminderte Energieaufnahme, wenn vergleichbare zuckerhaltige Produkte durch Süßstoff-Alternativen ersetzt werden.
hungergefühl
Es konnten entweder keine Effekte oder keine signifikanten Änderungen des Hungergefühls durch den Verzehr von Süßstoffen festgestellt werden.
sättigungsgefühl
Drei Untersuchungen zeigten eine Abnahme des Sättigungsgefühls bei Verzehr von Süßstoffen, jedoch nur eine sehr geringe.
appetit
Ebenso konnte in diesen drei Untersuchungen (RCTs mit 518 Teilnehmern) ein leicht erhöhter Appetit und Verlangen nach Essen festgestellt werden, wenn Süßstoffe verzehrt wurden.
zuckerverzehr
Zwölf RCTs wurden für die Untersuchung der Zuckeraufnahme in die Analyse eingeschlossen. Es zeigte sich, dass Verzehr von Süßstoffen eine Verringerung der Zuckeraufnahme von 39g/Tag hatte. Dies ist relativ logisch, wenn Zucker im Essensplan durch Süßstoffe ersetzt wird. Die Effekte waren am deutlichsten, wenn Zucker durch Süßstoffe ersetzt wurde (anstatt beispielsweise durch Wasser oder gar nichts) und war vor allem bei übergewichtigen Personen relevant.
lust auf süßes
In verschiedenen Experimenten, in denen Probanden süßstoffhaltige Getränke oder Lebensmittel gegeben wurden, zeigte sich keine verstärkte Lust auf Süßes. Interessanterweise scheint es vor allem der Zucker zu sein, der dieses Verlangen verstärkt: In einem Experiment mit Stevia-gesüßten Lebensmitteln zeigten die Probanden ein geringeres Verlangen nach Süßem als bei Zucker-gesüßten Lebensmitteln.
süßempfinden
Es wurde deutlich, dass Probanden, die ungesüßte statt gesüßten Getränken tranken, eine niedrigere Schwelle für Süß-Empfinden hatten. Wer süßer isst und trinkt (ob Zucker oder Süßstoff), mag es eben generell eher süßer und greift nach entsprechenden Lebensmitteln. Das eigene Süß-Empfinden ist jedoch veränderbar und kann Schritt für Schritt gesenkt werden.
Fazit
Bei kurzfristiger Verwendung von Süßstoffen scheint eine Verringerung von Übergewicht möglich, ohne jedoch kardiovaskuläre Vorteile mit sich zu bringen. Dies basiert vor allem auf der verringerten Energieaufnahme, wenn Zucker in der Ernährung durch Süßstoffe ersetzt wird.
Eine Langzeitverwendung von Süßstoffen könnte negative gesundheitliche Auswirkungen haben – deren Zusammenhänge sind bisher jedoch nicht kausal belegt, sondern nur durch Beobachtungsstudien.
Referenzen
abgerufen am 3.11.2024
- Weltgesundheitsorganisation. Health effects of the use of non-sugar sweeteners: a systematic review and meta-analysis (2022) ↩︎
- Price JM, Biava CG, Oser BL, Vogin EE, Steinfeld J, Ley HL. Bladder tumors in rats fed cyclohexylamine or high doses of a mixture of cyclamate and saccharin. Science. 1970;167(3921):1131-1132. ↩︎
- European Commission. Opinion on Saccharin and its sodium, potassium and calcium salts (1995) ↩︎
- European Commission. Acceptable daily intake of sweeteners in the EU (2021) ↩︎
Schreibe einen Kommentar