Jeder von uns kennt es: wir unterhalten uns mit Freunden oder Familie, eine Frage kommt auf und wir zücken in Sekundenschnelle das Smartphone, um unseren Wissensdurst zu befriedigen. Leider reicht unsere Aufmerksamkeitsspanne meist nur für wenige Minuten – Instagramposts, kurze TikTok-Videos oder maximal einen Artikel mit Lesedauer unter drei Minuten. Wir reagieren auf griffige Titel, die eine schnelle und leichte Antwort versprechen ohne viel nachgrübeln zu müssen.
Wann haben wir uns zuletzt wirklich intensiv mit einem Thema auseinandergesetzt? Uns mehr als einen Artikel durchgelesen, um uns eine Meinung zu bilden? Verschiedene Quellen herangezogen, die uns vielleicht nicht nur bestätigen? Wissen wir überhaupt noch, wie man unabhängig recherchiert und (zumindest halbwegs) aus seiner Blase entkommt?
Angst verkauft sich gut
Die Wissenschaft leidet unter polarisierenden Medien und der schwindenden Aufmerksamkeitsspanne der Gesellschaft. Sie ist leider nicht immer dramatisch, gefährlich, spannend, reißerisch. Die Medien dagegen schon. Wie könnten sie auch anders sein? Sie leben schließlich von ihrer Leserschaft – und Aufregendes hat sich schon immer besser verkauft.
Problematisch daran ist zum einen, dass mit der Angst der Menschen gespielt wird. Lebensmittel, die Krebs verursachen! Pestizide, die unsere Lebensmittel vergiften! Lebensmittel, die keine Nährstoffe mehr enthalten! Lebensmittel, die Allergien auslösen oder uns gar schizophren machen! Es ist keine Neuigkeit mehr, dass die Medien anziehenden Content erstellen, um Klicks zu generieren und eine breite Leserschaft anzusprechen – allerdings nicht um den Menschen die Wissenschaft näher zu bringen, geschweige denn, einen Bildungsauftrag zu erfüllen.
Zum anderen werden Fakten verdreht. Dabei geht es nicht einmal um „Fake-News“, die absichtlich manipuliert und verbreitet werden, sondern schlicht und einfach um Fehlinterpretation der wissenschaftlichen Ergebnisse. Sei es mangelndes Verständnis der Autor*innen, das Weglassen bestimmter Daten, um den Inhalt überzeugender zu machen oder das zu starke Vereinfachen für den Leser.
Forschung ist unsexy
Wissenschaft ist leider nicht immer spannend. Forschende sitzen Monate, wenn nicht gar Jahre an einer Fragestellung, führen Recherchen und Experimente durch – nur um am Ende ernüchtert festzustellen, dass der untersuchte Parameter keinen Effekt hatte. Ein Desaster! Keine Schlagzeile! Nichts!
Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft bekannt als publication bias und ist etwas, das uns jeden Tag auch im Alltag begegnet. Kein Ergebnis ist nämlich auch ein Ergebnis – allerdings weniger spannend. Der publication bias beschreibt eine Verzerrung bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen: Studien, die einen negativen oder keinen signifikanten Unterschied zwischen zwei Untersuchungsgruppen finden, werden seltener veröffentlicht als Studien, die einen positiven Unterschied finden.
Klar, es klingt auch erstmal interessanter, wenn es heißt „Vitamin-D-Supplemente fördern Knochengesundheit“ als „Vitamin-D-Supplemente kann man nehmen oder auch nicht, macht keinen Unterschied“. Problematisch ist dies nicht nur für die Forschenden – da sie dazu verleitet werden, ihre Daten zu einem positiven Effekt hin zu verändern – sondern auch für das Erstellen von Meta-Analysen, da wesentlich mehr Studien mit positiven Effekten zur Auswahl stehen als Studien, die den „Null-Effekt“ bestätigt haben.
Zum Kern vordringen
Mal angenommen, wir interessieren uns wirklich dafür, zum Kern eines Themas vorzudringen und nehmen uns auch tatsächlich eine Stunde Zeit für eine Recherche. Wir wollen einmal genauer hinschauen, was wir lesen.
Nicht jeder muss gleich eine vollumfängliche Literaturrecherche machen, um sich eine Frage zu beantworten, doch ein paar Tipps sollten beherzigt werden, um nicht dem nächsten Ernährungsmythos auf den Leim zu gehen.
Titel
Besonders reißerisch klingende Schlagzeilen solltest Du vermeiden. Sie versprechen meist mehr, als sie halten und lohnen Deine Zeit nicht. Investiere lieber in qualitativ hochwertige Artikel und nimm Dir die fünf Minuten Zeit.
Webseite
Jeder darf Internetseiten gründen und Inhalte hochladen. Nicht alles, was im Internet steht, ist wahr. Gerade bei Ernährungsthemen wissen alle am besten Bescheid, weil sie irgendwo irgendwas gelesen haben. Es ist essentiell wichtig darauf zu achten, woher Du Deine Informationen beziehst. Daher bei der Google-Suche schon auf die Webseiten-Domain achten. Fachinformationen bekommst Du meist auch nur bei den entsprechenden Institutionen und solltest dort als erstes vorbeischauen (für Ernährungsthemen bspw. BfR, BMEL, BVL, BfZE, DGE, VDD, Ärzteblatt, Ernährungsumschau).
Recherche
Bei der Literaturrecherche (z.B. nach wissenschaftlichen Publikationen) sind die Recherchebegriffe natürlich sehr wichtig – wähle möglichst neutrale Suchbegriffe und nicht schon Deine vorgefertigte Meinung. Zudem solltest Du Portale wie Google Scholar oder PubMed verwenden.
Aktualität
Gerade in der Ernährungswissenschaft gibt es unzählige ungeklärte Fragen und jeden Tag neue Erkenntnisse. Eine Studie aus den 90ern ist daher nicht unbedingt die zuverlässigste Basis. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass daraus gewonnene Erkenntnisse bereits widerlegt wurden.
Quelle
Entscheidend für die Vertrauenswürdigkeit eines Artikels ist selbstverständlich dessen Informationsquelle – der Autor*in des Beitrags. Leider wird oft mit Titeln um sich geworfen, um einen professionellen Eindruck zu hinterlassen, doch auch ein Doktor*in hat nicht zwingend Ahnung von der Materie, nur weil er oder sie diesen Abschluss hat. Sie sind auch nicht allwissend und unfehlbar.
In der Ernährungswissenschaft gibt es ebenfalls große Unterschiede, was die Ausbildung angeht, beispielsweise ob an der Universität (und an welcher) oder Fachhochschule studiert wurde. Zudem sind viele Influencer unterwegs, die sich gut darauf verstehen, wissend auszusehen, letztendlich aber kaum Verständnis von den Basics der Forschung haben und nur Halbwissen weitergeben.
Diversität
Achte darauf, mehrere Quellen heranzuziehen und vor allem nicht nur die, die Dir persönlich gefallen und Dich direkt ansprechen. Gute Recherche bedeutet auch, sich andere Meinungen anzusehen, die der eigenen These widersprechen.
Gute Wissenschaft ist, wenn man versucht, die eigene Hypothese zu widerlegen.
Referenzen
Schön, wenn am Ende eines Dokumentes Referenzen angegeben werden. Typisch ist, dass Links nicht funktionieren oder nicht auffindbar sind. Werden Links zur Verfügung gestellt, die auch tatsächlich zum Geschriebenen oder Gesagten passen oder ist es nur eine wilde Auswahl an Quellen, die mit dem Thema zusammenhängen? Referenzen belegen Aussagen und sollten daher direkt im Anschluss an einen Satz gekennzeichnet werden (z.B. als Fußnote).
Wenn Referenzen auffindbar sind, solltest Du sie auch einmal gegenchecken. Werden nur andere Blogbeiträge oder Reportagen zitiert oder findet man tatsächlich die Original-Studie (Primärliteratur), die in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlicht wurde?
Einordnung
Das ist nun schon höhere Mathematik, denn ohne Hochschulstudium, intensives Auseinandersetzen mit Studiendesigns und ohne fachlichen Hintergrund ist es schwer, qualitativ hochwertige Studien von anderen zu unterscheiden. Allerdings lohnt es sich oft schon, die Studie mal durchzulesen (egal ob sie solide ist oder nicht), da oftmals nur Sätze aus den Abstracts kopiert werden, ohne den gesamten Inhalt gelesen zu haben (absichtliches Weglassen). Dabei werden Ergebnisse ohne Kontext weitergegeben und verfälscht.
Reality-Check
To good to be true? Als letztes solltest Du Dich fragen – ist es vielleicht zu gut (oder zu schlimm) um wahr zu sein? Oftmals versuchen die Medien Schwarz-Weiß-Aussagen zu treffen, um zu polarisieren und aufzuregen. Wenn man mal genauer hinschaut, sind Statistiken und Daten weggelassen oder manipuliert worden und das tatsächliche Ergebnis der Studie gar nicht so dramatisch. Es lohnt sich also ein zweiter Blick, anstatt sofort blind zu glauben was die Schlagzeile suggeriert.
Ein Praxisbeispiel
Bei einer kürzlichen Recherche für einen meiner Artikel bin ich – wie so oft – auf sehr fragwürdige Beiträge gestoßen. Neben der Literaturrecherche (wissenschaftliche Paper) schaue ich auch gern, was in den Medien (journalistische Artikel) veröffentlicht wurde, um mir ein Gesamtbild zu machen. Außerdem ist es gut zu wissen, mit welchen Mythen und Ängsten aktuell so gespielt wird, um darauf zu reagieren und einzugehen.
Bei der Fragestellung „Sind in unseren Lebensmitteln tatsächlich weniger Nährstoffe enthalten als früher?“ stieß ich auf folgenden Artikel:
Disclaimer: Mit meinem Text möchte ich niemanden diskreditieren oder deren Arbeit schlechtreden. Fakt ist jedoch, dass gewisse Standards der wissenschaftlichen Berichterstattung – oft zugunsten von Klicks oder Leserzahlen – nicht mehr eingehalten werden. Dem möchte ich etwas entgegenhalten und zumindest meine Leser aufmerksam machen und dazu animieren, kritisch zu denken und Dinge zu hinterfragen.
Optisch Hui, Inhaltlich Pfui
Was mir als allererstes auffiel, war die nachfolgende Abbildung, mit der der Artikel eingeleitet und beworben wird. Es ist die typische Grafik, die wissenschaftlich scheinen möchte, aber alles falsch macht.
Sie wirkt im ersten Eindruck akademisch (durch Fachbegriffe wie „Lycopin“) und gleichzeitig alarmierend (durch die negativen Prozentzahlen und Trigger-Begriffe wie der „bösen“ Hybridtomate im Vergleich zur „guten“ alten Tomatensorte). Insgesamt wird versucht den Sachverhalt möglichst auffällig darzustellen, während man das Deckmäntelchen der Wissenschaft überstreift.
Abbildung entnommen aus oben erwähntem Artikel1
Leider ist genau dieses Spielen mit Zahlen und „Fakten“ das Problem. Zuerst fiel mir auf, dass die Abbildung keinerlei Referenzen hat und auch die Bildunterschrift keine Informationen enthält, woher diese „Fakten“ stammen. Die Hybridtomate und die alte Sorte werden in keinster Weise benannt. „Früher und heute – ein Vergleich“ sagt ebenfalls nichts darüber aus, welche Zeiträume gemeint sind. Fazit: man fühlt sich gut informiert und vielleicht sogar erstaunt, hat aber eigentlich keine Fakten erhalten. Der Begriff Infografik ist beinahe lachhaft.
Nachdem ich durch die Abbildung aufmerksam und hellhörig wurde, schaute ich mir folgendes genauer an:
- Aktualität: Der Artikel ist aus dem Jahr 2020, also noch recht aktuell. Kann man machen.
- Autorin: Auf den ersten Blick hat die Autorin einen wissenschaftlichen Titel, das ist schonmal gut. Leider auch häufig irreführend, da ein Titel allein erstmal nichts über die Kompetenz auf JEDEM Gebiet aussagt. Dipl. Ges. Oec. steht kurz für Diplom Gesundheitsökonomin. Die Autorin ist staatlich anerkannte Kinderpflegerin einer Fachhochschule mit einer Diplomarbeit über eine Telekommunikationsplattform. Das ist super, hat aber leider mit dem Thema des Artikels wenig zu tun und ist von Ernährungswissenschaft, Biochemie oder Biowissenschaften leider weit entfernt. Sie ist freiberufliche Medizinjournalistin und auf vielen Internetseiten mit Artikeln vertreten. Fazit dazu: Sie ist mit Sicherheit eine kompetente Person auf ihrem Fachgebiet, doch in diesem Artikel zeigt sich nicht die wissenschaftliche Berichterstattung, die ich von Medizinjournalismus erwarten würde.
- Webseite: Die Webseite foryouehealthist eine Verkaufsplattform für Nahrungsergänzungsmittel und Selbsttests für Zuhause. Ganz dünnes Eis, um dann über solche Themen Artikel zu veröffentlichen. Leider erwähnt die Autorin in ihrem Artikel sogar das Angebot der Nahrungsergänzungsmittel dieser Plattform, was einer wissenschaftlichen Berichterstattung absolut widerspricht.
- Referenzen: Mein nächstes Augenmerk lag daher auf den Referenzen, von denen ich mir etwas Klarheit erhoffte, doch leider wurde ich enttäuscht. Ein wildes Sammelsurium an Quellenangaben, unauffindbare Links (die auch nichtmal anzuklicken waren, sondern umständlich per Copy-Paste benutzt werden mussten – nicht sehr leserfreundlich) und am kritischsten: es gibt keine wirkliche Referenzierung, d.h. es wurden keine Fußnoten verwendet, sondern die Quellen einfach am Ende unter den Artikel geklatscht.
EXKURS
Wie man zitiert? Die richtige Herangehensweise wäre, direkt nach einem Satz, der nicht aus der eigenen Feder stammt oder der Informationen enthält, die man nachschlagen muss (Faustregel: die nicht „Common Sense“ sind), eine Fußnote einzufügen, aus welcher Quelle man die Informationen bezieht.
Lass Dich nicht von Schein-Referenzen täuschen
Nachdem mir vom bloßen Überfliegen des Artikels schon kalte Schauer über den Rücken liefen, konnte ich mich nicht zurückhalten, mir die Referenzen im Detail anzusehen. Diese intensive Recherche dauert natürlich viel zu lang, um dies bei jedem Artikel zu tun, doch es gibt einen erschreckend guten Einblick darin, wie Medizin- und Gesundheitsjournalismus betrieben wird – schnell und dreckig. Wer sich richtig informieren möchte, sollte auf Qualität statt Quantität setzen.
Nun zur Analyse der angegebenen Referenzen:
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Literaturrecherche für Medizinjournalismus mehr als dürftig ausfällt. Zur einen Hälfte bestehen die Quellenangaben aus zusammenkopierten Referenzen anderer Blogartikel und zur anderen Hälfte aus falschen oder fehlenden Zitierungen. Die Blogartikel beziehen sich zudem zum größten Teil auf eine einzige Untersuchung, nämlich der von Donald Davis aus dem Jahre 20042. Andere Meinungen, Untersuchungen oder Analysen, die die Fragestellung vielleicht etwas kritischer beleuchten würden – Fehlanzeige.
Um Herrn Donald Davis für seine Mühen wenigstens etwas Respekt zu zollen hier nun die Originalpublikation, auf die sich so wild gestürzt und die so halbherzig zitiert wurde:
Davis, D. R., Epp, M. D., & Riordan, H. D. (2004). Changes in USDA food composition data for 43 garden crops, 1950 to 1999. Journal of the American College of Nutrition, 23(6), 669–682. https://doi.org/10.1080/07315724.2004.10719409
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Da der Artikel nicht frei zugänglich ist, lade ich ihn euch in meiner Cloud hoch, sodass ihr ihn euch ansehen und durchlesen könnt. Da es den Rahmen sprengen würde, auf diesen Artikel im Detail einzugehen, hebe ich mir das für eine andermal auf!
Äpfel mit Birnen vergleichen
Nachdem ich mich nun schon intensiv mit den Quellenangaben befasst hatte, war ich leider schon etwas voreingenommen, was den Inhalt anging. Da ich nicht überzeugt bin, dass hier eine tiefergehende Recherche stattgefunden hat und sich hauptsächlich auf Blogartikel verlassen wurde, erwarte ich vom Inhalt nicht mehr viel.
Im Abschnitt „Diese Lebensmittel haben an Nährstoffen eingebüßt“ folgen nun einige Aufzählungen. Leider werde ich auch hier nicht fündig, woher die Zahlen stammen. Sie erwähnt beispielsweise im Text: „Nehmen wir zum Beispiel Orangen. Sie können nur noch ein Achtel an Vitamin A bieten. Brokkoli kommt mit 80 % weniger Kupfer daher.“ Beide Daten sind in der Tabelle nicht zu finden, ebenso wenig die Quellenangaben.
Abbildung entnommen aus oben erwähntem Artikel1
EXKURS
Mineralstoffe unterteilt man nach der Dosis, in der sie lebenswichtige Funktionen im menschlichen Organismus übernehmen. So unterscheidet man Mengenelemente (von denen wir in der Regel mehr als 50mg/Tag benötigen, beispielsweise Natrium, Chlorid, Kalium, Calcium, Phosphor und Magnesium) und Spurenelemente (von denen wir in der Regel weniger als 50mg/Tag benötigen, beispielsweise Eisen, Jod, Fluorid, Zink, Selen, Kupfer, Mangan, Chrom, Molybdän, Kobalt und Nickel).
Was mich allerdings bei dieser Tabelle wesentlich mehr stört, ja sogar erschüttert, wenn man von Medizin- oder Gesundheitsjournalismus spricht, ist der simple Fakt, das keine Einheiten angegeben sind. Oder was sind 103 Calcium verglichen mit 33 oder 28? Spricht die Autorin von Gramm, Milligramm, Mikrogramm? Man weiß es nicht.
In der Tabelle werden beispielsweise Calcium, Folsäure und Magnesium gemeinsam aufgeführt. Während Calcium und Magnesium sich normalerweise im Milligramm-Bereich bewegen, sind Folsäure-Gehalte (Folat genau genommen) deutlich geringer und bewegen sich im Mikrogramm-Bereich. Was die Zahlen in der Tabelle also bedeuten sollen, ist mir unklar. Einen Brokkoli mit 47mg/100g Folat möchte ich jedenfalls gern mal sehen.
Unbestätigte Health-Claims und Angstmache
Im Abschnitt „Verhungern trotz reichlich Nahrung“ erwähnt die Autorin, dass durch den westlichen Ernährungsstil Mangelerscheinungen auftreten können, die sogar zu einem sogenannten „Nährstoffhunger“ führen sollen. Sicherlich gibt es nachgewiesene Mangelerscheinungen, selbst in einem wohlhabenden Land wie Deutschland, da wir viel zu viel Fleisch und zu wenig pflanzliche (und unverarbeitete) Nahrungsmittel zu uns nehmen. In Deutschland von „Verhungern“ zu sprechen, ist jedoch blanker Hohn.
Untersuchungen3 zeigten bisher jedenfalls nur sehr spezifische Mangelerscheinungen – u.a. Vitamin D und Jod – und kein generelles Problem was die Versorgung der Bevölkerung angeht. Von einer präventiven Aufnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, um einem solchen vermeintlichen Mangel vorzubeugen, rät beispielsweise das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) ab4.
Auf den sogenannten „Nährstoffhunger“ geht die Autorin im nächsten Abschnitt weiter eni. Dort heißt es: „Wusstest Du zum Beispiel, dass der Appetit auf Schokolade auf einen Magnesiummangel zurückgeführt werden kann?“. Diese steile These lasse ich mal so im Raum stehen und warte auf den wissenschaftlichen Nachweis für diese Aussage, die die Autorin an dieser Stelle nicht liefert.
Wie sieht’s nun mit den Nährstoffen aus?
Die Erklärungen zur Fragestellung, die sie Davis‘ Studie entlehnt, haben wieder mehr Hand und Fuß. Der Frage „Warum enthalten Obst und Gemüse weniger Nährstoffe?“ wird tatsächlich relativ neutral nachgegangen und Argumente wie ausgelaugte Böden, Züchtung auf gesteigerten Ertrag, schneller Anbau und Art des Anbaus (ökologisch oder konventionell) aufgeführt. Dass bei der Entwicklung neuer Sorten vor allem auf Resistenz vor Schädlingen oder Trockenheit statt auf Geschmack und Nährstoffgehalt geachtet wird, ist ebenso richtig. Bei neuen Sorten kann es daher tatsächlich dazu kommen, dass die Nährstoffprofile verändert sind – einfach, weil keiner sich besonders für den Nährstoffgehalt interessiert, wenn die Sorte sonst die gewünschten Eigenschaften (schnell wachsen, viel Ertrag, schöne Farbe) zeigt. Ob dies zu so dramatischen Effekten führt, wie in den Medien proklamiert wird, bedarf einer etwas genaueren Recherche.
Beiße nicht die Hand, die dich füttert
Final schließt die Autorin mit einer Empfehlung für Nahrungsergänzungsmittel, was dem Artikel die letzte Sachlichkeit nimmt. Selbstverständlich schreibt die Autorin für eine Gesundheitsseite, die Nahrungsergänzungsmittel verkaufen möchte. Es besteht ein klarer Interessenskonflikt. Das bedeutet nicht, dass sie sich zum Thema gar nicht äußern dürften, allerdings sollten sie mehr Wert auf wissenschaftliche Berichterstattung legen, um keine Fragen offen zu lassen. Das ist hier leider nicht geschehen.
Medizinjournalismus ist und sollte neutral bleiben, die Datenlage auswerten, Fakten checken und das Thema möglichst einfach an die Leser vermitteln. Der Sinn der Sache ist nicht, Produktwerbung damit zu betreiben.
Referenzen
Abgerufen am 18.11.2024
- Dipl. Ges. Oec. Jennifer Ann Steinort (29.10.2020) Der Nährstoffgehalt in Lebensmitteln früher und heute: Was hat sich verändert? ↩︎
- Davis, D. R., Epp, M. D., & Riordan, H. D. (2004). Changes in USDA food composition data for 43 garden crops, 1950 to 1999. Journal of the American College of Nutrition, 23(6), 669–682 ↩︎
- Deutsche Gesellschaft für Ernährung (2017) Wie sind die Deutschen mit Nährstoffen versorgt? ↩︎
- Bundesinstitut für Risikobewertung (2018) Nährstoffversorgung? Teller statt Tablette! ↩︎
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