Ist Vegane Ernährung Unnatürlich?
Die vegane Ernährung, das heißt der Verzicht auf alle tierischen Lebensmittel, wird oftmals – insbesondere von überzeugten Fleisch-Essern – als unnatürlich, ungesund oder unvollständig verurteilt. Unsere evolutionsbiologische Ernährung ist omnivor – wir sind „Allesfresser“. Das ist richtig und mag unsere naturgegebene Ernährungsweise sein, doch stellen wir uns heutzutage ganz anderen Lebenssituationen (Dauersitzen) und einer völlig neuen Weltsituation (Klimakrise), dass wir den Menschen als Omnivoren neu denken müssen.
Omnivor bedeutet, dass wir tierische und pflanzliche Lebensmittel verwerten können, um notwendige Nährstoffe aufzunehmen. Das heißt nicht, dass wir es müssen und schon gar nicht mehrmals täglich. Es ist leicht, die Evolution bei der Ernährungsfrage heranzuziehen, um seinen eigenen Fleischkonsum zu rechtfertigen, doch der ursprüngliche Homo sapiens hat selten vier Cheeseburger pro Woche vor dem Fernseher essen dürfen. Dass unser Lebensstil sich seit der Steinzeit verändert hat und wir unser Essverhalten dem Wandel anpassen müssen, bleibt bei der Diskussion um „artgerechte“ oder natürliche Ernährung des Menschen auf der Strecke. Was für den Menschen des 21. Jahrhunderts als „natürliche“ Ernährung gelten kann und sollte, muss daher überdacht werden.
Nicht nur, dass sich unser Lebensstil radikal von der Savanne zum Sofa verändert hat und eine fleisch-lastige Omnivorenernährung dabei alles andere als gesundheitsfördernd ist – unsere aktuelle Weltsituation erlaubt es uns nicht mehr, so zu essen „wie früher“ (in den letzten 50 Jahren). Mehrmals pro Woche tierische Lebensmittel aus Massentierhaltung zu konsumieren ist schlichtweg nicht mehr zeitgemäß (auch wenn unser Körper es verwerten könnte). Das ist keine Frage der Biologie, sondern der Moral.
Zuletzt wird die vegane Ernährung als unvollständig betrachtet, da ihr essentielle Nährstoffe fehlen, die normalerweise über tierische Lebensmittel abgedeckt werden. Da sie auf Nahrungsergänzungsmittel (meist in Form von Tabletten) zurückgreifen müssen, betrachten viele dies als „unnatürliche“ Ernährungsweise. Doch wie viele Zusätze den Tieren in Massentierhaltung gegeben werden müssen, um das gewünschte „vollwertige“ Endprodukt zu erhalten, ist den wenigsten klar1.
Wenn wir Fleisch aus Massentierhaltung essen, gehen wir einen Umweg, indem wir das Tabletten-Nehmen den Tieren überlassen.
Vitamin B12 wird von Mikroorganismen gebildet – nicht von Tieren
Das bekannteste Beispiel ist vermutlich Vitamin B122. In Kürze: B12 ist ein essentielles Vitamin, das nicht von Mensch oder Tier gebildet werden kann und daher extern zugeführt werden muss. Tierische Lebensmittel sind trotzdem die Lebensmittel die (im Vergleich zu pflanzlichen Produkten) „reich“ an B12 sind. Wie kann das sein?
Vitamin B12 wird von Mikroorganismen gebildet. Diese leben beispielsweise im Pansen von Wiederkäuern wie Rindern oder Schafen. Diese Tiere können also mithilfe der Mikroorganismen B12 in ihrem „Magen“ bilden und anschließend aufnehmen, sodass in ihrem Fleisch und anderen Endprodukten B12 vorhanden ist3. Beim Menschen funktioniert das leider nicht, da die Mikroorganismen im Dickdarm sitzen (nicht in unserem Magen) und das produzierte B12 im Dickdarm nicht mehr aufgenommen werden kann. Einzige Aufnahmemöglichkeit wäre dann… naja, das kannst Du Dir sicher selber denken. Wir müssen B12 also von oben nachfüllen.
Tiere, die ebenfalls keinen Pansen haben (wie Schweine oder Hühner) können demnach B12 nicht selbst produzieren und sind, ebenso wie wir, auf eine externe Zufuhr angewiesen. Sie erhalten dieses durch entsprechendes Tierfutter mit zugesetztem B124. Schweine- und Hühnerfleisch sind also nur „reich“ an B12, weil es ihrer Nahrung zugesetzt wird – ebenso wie es Veganer und Veganerinnen mit Nahrungsergänzungsmitteln tun. Nur eben, ohne auch noch das Tier zu essen.
Die Mikroorganismen benötigen für gutes Gelingen der B12-Synthese zudem eine weitere Substanz (quasi ihre „Nahrung“) – das Spurenelement Cobalt. Dieses kommt in der Natur prinzipiell vor, jedoch in relativ geringen Mengen und ist sehr ungleichmäßig verteilt5. Das Gras (Grassilage) und der Mais (Maissilage), welche an die Rinder verfüttert werden, sind daher meist ebenso cobaltarm wie die Erde, auf der sie grasen. Schlecht für die B12-Produktion im Pansen und auch schlecht für die Tiergesundheit – merkten auch die Landwirte und setzten fortan Cobalt dem Rinderfutter zu6. Bei Rindern funktioniert also die B12-Synthese im Pansen „natürlich“, aber auch dafür müssen den Tieren „Nahrungsergänzungsmittel“ gegeben werden (Futtermittelzusatzstoffe).
Ob nun das Rindersteak oder das Schweineschnitzel aus Massentierhaltung als natürliche Produkte bezeichnet werden sollten, während über die Tabletten-abhängigen (natürlich nur Vitamin B12) Veganer und Veganerinnen die Nase gerümpft wird, bleibt also eine gesellschaftliche Frage.
Macht Fleisch Uns Stark?
Neben Vitamin B12 gibt es noch weitere Nährstoffe und Spurenelemente, die bei veganer Ernährungsweise als kritisch gelten. Dass Veganer und Veganerinnen generell mangelernährt sind, ist jedoch falsch. Zudem gibt es auch Nährstoffe und Spurenelemente, die bei Mischkost nicht ausreichend zugeführt werden – jede Ernährungsweise hat ihre Stärken und Schwächen.
Dass Eisen in tierischen Lebensmitteln vorhanden ist, ist nicht neu. Doch auch pflanzliche Lebensmittel enthalten Eisen in nennenswerten Mengen – oftmals problematisch ist die Bioverfügbarkeit7. Tierisches Eisen kann in der Regel besser vom Körper aufgenommen werden, während das pflanzliche Eisen durch andere Stoffe gebunden sein kann (Lignin, Oxalsäure, Phytat u.a.). Allerdings kompensieren Veganer und Veganerinnen dies durch geschickte Kombination von Lebensmitteln und einer generell gesünderen Lebensweise – mehr Vollkornprodukte, mehr Hülsenfrüchte, mehr Obst und mehr Gemüse.
Eine Studie, die im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde8, vergleicht den Versorgungsstatus vegan ernährter Personen zur Mischkost und konnte keinen Eisenmangel durch rein pflanzliche Kost feststellen (Supplemente wurden herausgerechnet). Die Studie ist insofern stark, da sie sich nicht allein auf Ernährungsprotokolle verlässt (wie viele andere Studien, die dem Veganismus den Eisenmangel nachsagen), sondern aussagekräftige Biomarker analysiert hat, die nicht nur die Menge des verzehrten Eisens widerspiegeln, sondern auch die Bioverfügbarkeit berücksichtigen (wie viel am Ende wirklich im Körper ankommt).
Ebenso gilt Calcium seit Langem als Risikofaktor bei einer veganen Ernährung, da auf Milchprodukte verzichtet wird und dies die Hauptaufnahmequelle darstellt. Zu dieser These gibt es widersprüchliche Studien. Die oben zitierte Studie des Deutschen Ärzteblattes interpretiert, u.a. anhand des Biomarkers „Calciumausscheidung“, tendenziell eine schlechtere Versorgung mit Calcium – die Hypothese hier: durch geringere Calcium-Aufnahme bei veganer Ernährung zeigt sich auch eine geringere Ausscheidung im Vergleich zur Mischkost. Inwieweit durch Calcium-angereicherte Lebensmittel eine Versorgung sichergestellt werden kann, ist noch nicht klar.
Einen weiteren Hinweis zur Calciumversorgung gibt eine Studie des BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung)9. Hier zeigte sich, dass Veganismus mit einer schlechteren Knochengesundheit (interpretiert u.a. anhand von Ultraschallmessung am Fersenbein sowie Biomarkern in Blut und Urin) assoziiert war.
Fleisch macht uns nicht pauschal stark macht und eine pflanzenbetonte Ernährung – selbst wenn auf tierische Produkte vollständig verzichtet wird – ist nicht pauschal eine Mangelernährung.
Es ist auch nicht natürlicher oder physiologischer, sich aufgrund unserer Evolutionsgeschichte omnivor zu ernähren, wenn dies nicht den moralischen und gesundheitlichen Vorstellungen entspricht. Andererseits ist Veganismus noch nicht in der breiten Masse angekommen und es besteht weiterer Forschungsbedarf, um Risiken – wie beispielsweise die Knochengesundheit – aufzudecken und an die Gesellschaft zu kommunizieren.
Referenzen
abgerufen am 27.09.2024
- Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Was sind Futtermittelzusatzstoffe? ↩︎
- Bundesinstitut für Risikobewertung (2023) Vitamin B12 – bei pflanzenbasierter Ernährungbesonders auf eine angemessene Versorgung achten ↩︎
- National Institues of Health (2024) Fact Sheet for Health Professionals. Vitamin B12 ↩︎
- deuka. Rohstoff- und Nährstofflexikon. Vitamin B12 ↩︎
- numis | Das niedersächsische Umweltportal (2022) Hintergundwerte für Kobalt (Co) in Böden in Deutschland ↩︎
- deuka. Rohstoff- und Nährstofflexikon. Kobalt ↩︎
- Bundesinstitut für Risikobewertung (2008) Fragen und Antworten zu Eisen in Lebensmitteln ↩︎
- Weikert C, Trefflich I, Menzel J, Obeid R, Longree A, Dierkes J, Meyer K, Herter-Aeberli I, Mai K, Stangl GI, Müller SM, Schwerdtle T, Lampen A, Abraham K: Vitamin and mineral status in a vegan diet. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 575–82. ↩︎
- Menzel, J.; Abraham, K.; Stangl, G.I.; Ueland, P.M.; Obeid, R.; Schulze, M.B.; Herter-Aeberli, I.; Schwerdtle, T.; Weikert, C. Vegan Diet and Bone Health—Results from the Cross-Sectional RBVD Study. Nutrients 2021, 13, 685. ↩︎
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